Wiederentdeckung und romantische Restaurierung des Hochmeisterpalastes
Sichtung und Erfassung der archivalischen Überlieferung
Die Forschungstätigkeit zu Schwerpunkt 2 konzentrierte sich zunächst auf die Sichtung und Erfassung der Quellenüberlieferung aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Gegensatz zur Erforschung der mittelalterlichen Bau- und Nutzungsgeschichte mit einer eher spärlichen Quellenlage, weist die ‚romantische Epoche‘ geradezu eine Überfülle an schriftlicher Überlieferung auf, die in einem ersten Schritt vollständig gesichtet und systematisch erfasst wurde. Der größte Aktenbestand befindet sich im ehemaligen Schlossbauarchiv, das noch heute in den Räumen des Hochmeisterpalastes lagert, sinnigerweise dort, wo schon im Mittelalter Kanzlei und Archiv des Ordens gewesen sind. Die Gründung des Schlossbauarchivs ging auf eine Anordnung Theodor von Schöns (Abb. 1) von 1831 zurück, nach der alle Beteiligten der Restaurierungsarbeiten ihre Unterlagen zur dauerhaften Aufbewahrung im Schloss abzugeben hatten. Dies betraf auch die Korrespondenz Schöns selbst, die als zentrale Überlieferung der ‚romantischen‘ Epoche anzusehen ist. Die Akten des Oberpräsidenten sind für die Jahre 1815-1825 komplett erhalten und bilden den umfangreichsten und ergiebigsten Bestand. Es handelt sich um insgesamt 12 Konvolute mit einem Umfang von jeweils 300-400 Seiten. (Abb. 2) Da Theodor von Schön die Oberaufsicht über der Wiederherstellungsarbeiten hatte und sich auch um viele Kleinigkeiten in Planung und Ausführung persönlich kümmerte, ist diese Korrespondenz inhaltlich sehr breit gestreut. Es finden sich dort der Briefverkehr mit dem König, Prinzen, Ministern, hohen Verwaltungsbeamten, Architekten, Künstlern, Wissenschaftlern und Historikern, Bauleitern, Handwerkern sowie Adels- und Ständevertretern aus Ost- und Westpreußen. (Abb. 3) (Abb. 4) Zur Erschließung des ideologischen Hintergrunds und der praktischen Durchführung des Wiederherstellungsprojekts ist diese Korrespondenz Schöns ein entscheidender Schlüssel.
Ebenfalls von erheblicher Bedeutung sind die Korrespondenz, Notizen und Manuskripte Ludwig Häblers (1768-1842), dem evangelischen Pfarrer Marienburgs, der im Auftrag Schöns sowohl intensive historische Studien zum Schloss und dem Deutschen Orden als auch die restaurierungsbegleitende Bauforschung betrieb. Von Häblers Tätigkeit haben sich tausende von Seiten mit Abschriften historischer Quellen sowie umfangreiche Manuskripte mit historischen Abhandlungen zur Ordens- und Schlossgeschichte erhalten. Keines der Werke wurde veröffentlicht und in der Forschung wurde nur sporadisch auf die Notizen Häblers zurückgegriffen. Mit Wilhelm Häbler beginnt die moderne wissenschaftliche Beschäftigung mit der Baugeschichte der Marienburg, da er historische Quellen und Baubefunde miteinander verknüpfte, um neue Erkenntnisse zur Architektur- und Funktionsgeschichte der Hochmeisterresidenz zu gewinnen. Obwohl er keine Vorbildung als Architekt oder Ingenieur besaß, war Häbler in der Lage, zahlreiche richtige Schlussfolgerungen aus der Analyse der Baubefunde zu gewinnen. Auch für die Erforschung des mittelalterlichen Zustands des Hochmeisterpalastes sind die Notizen und Abhandlungen Häblers von großer Bedeutung, denn er hat viele alte Baudetails beschrieben, die heute nicht mehr vorhanden sind. (Abb. 5) Auf diese Informationen wurde auch bei den Arbeiten zum Schwerpunkt 1 zurückgegriffen.
Eine weitere wichtige Persönlichkeit für die frühe Erforschung der Marienburg ist der Königsberger Archivdirektor und Geschichtsprofessor Johannes Voigt (1786-1863), der von Theodor von Schön den direkten Befehl erhielt, die Königsberger Archivbestände gründlich nach Baunachrichten zur Marienburg zu durchsuchen. (Abb. 6) Voigt kam diesem Auftrag geflissentlich nach und veröffentlichte schon 1824 eine erste umfangreiche Monographie Marienburgs (VOIGT 1824), basierend auf zahlreichen mittelalterlichen Quellen, die er in den ersten Jahren der Schlossrestaurierung im Archiv entdeckt und ausgewertet hatte. Auch die Auffindung der für die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte des Hochmeisterpalastes grundlegenden Rechnungsbücher des Ordens (Tresslerbuch, Ausgabenbuch des Marienburger Hauskomturs) gehen auf die Recherchen zurück. Entscheidende Momente der frühen Forschungsgeschichte (wie etwa die Entdeckung der Rechnungsbücher) sind durch den Briefwechsel zwischen Voigt und Häbler ausführlich dokumentiert. Der intensive Briefkontakt der beiden Gelehrten untereinander findet sich ebenfalls in den Akten der Schlossbauverwaltung.
Als dritte Person in dem von Theodor von Schön zusammengestellten Forscherteam ist Joseph von Eichendorff (1788-1857) zu erwähnen, der zwischen 1821 und 1831 als Mitarbeiter des Oberpräsidenten in Danzig und Königsberg tätig war. Der dichtende Beamte wurde rasch in die intellektuelle Gruppe um Theodor von Schön integriert, die sich um die Erforschung und denkmalpflegerische Konzeption der Wiederherstellung der Marienburg kümmerte. Eichendorff hat während seiner Danziger/Königsberger Zeit nicht nur seine berühmteste Novelle vollendet („Aus dem Leben eines Taugenichts“) sondern auch die Marienburg in Gedichten und einem Drama („Der letzte Held von Marienburg“, 1830) zum Gegenstand seiner Poesie gemacht. 1844 verfasste er auf Bitten Theodor von Schöns einen historischen Essay zur Geschichte und Wiederherstellung der Marienburg („Die Wiederherstellung des Schlosses der deutschen Ordensritter zu Marienburg“). Zu dem letztgenannten Werk, das in der Literaturgeschichte der Romantik bislang fast nicht beachtet wurde, hat sich im Schlossbauarchiv ein größeres Aktenkonvolut erhalten, das Einblicke in die Arbeitsweise Eichendorffs als Autor eines historisch-pädagogisch konzipierten Textes erlaubt. Daneben finden sich in den 1820er Jahren zahlreiche Aktenvermerke und Gutachten aus der Hand Eichendorffs, die seine Tätigkeit als preußischer Kulturbeamter beleuchten. In den Beständen des Schlossbauarchivs gibt es insgesamt etwa ein Dutzend Briefe Eichendorffs, die in der Forschung zum Teil noch nicht bekannt sind.
Hinzuweisen ist schließlich noch auf eine große Zahl von Originalbriefen zeitgenössischer Architekten, Künstler und Gelehrten, mit denen Theodor von Schön in der Angelegenheit Marienburgs in Kontakt stand. Zu erwähnen sind hierbei etwa Karl Friedrich von Schinkel, Johann Adam Breysig, Johann Büsching, Johann Costenoble, Friedrich Frick und Georg Moller.
Der Bestand an Unterlagen des Schlossbauarchivs umfasst nicht nur Akten sondern auch Pläne und Zeichnungen. Diese haben sich (wie in vergleichbaren Fällen) leider nur partiell erhalten. Immerhin gibt es zwei Grundrisse von 1820 sowie eine vollständige Bestandaufnahme der 1818 wiederentdeckten Hochmeisterkapelle. Aus diesen Planunterlagen lassen sich die damals durchgeführten Restaurierungsmaßnahmen im Detail ablesen.
Die Wiederentdeckung der Marienburg begann mit dem Besuch Friedrich Gillys (im Zuge einer Inspektionsreise seine Vaters David Gilly) im Sommer 1794. (Abb. 7) Friedrich fertigte zahlreiche Ansichten der verfallenden Hochmeisterresidenz im romantischen Duktus an und stellte zehn die Blätter als Aquarelle 1795 auf der Jahresausstellung der Berliner Akademie der Künste aus. Mit diesen Ansichten hatte er einen herausragenden Erfolg, gewann den Akademiepreis, ein Blatt wurde vom König selbst erworben, ein zweites vom Kurator der Ausstellung, dem Minister Friedrich Anton von Heynitz. Die Marienburgzeichnungen von Friedrich Gilly erweisen sich – sowohl künstlerisch-formal als auch in ihrer inhaltlichen Bedeutung sowie in Hinsicht auf ihre gesellschaftlich-kulturelle Wirkung – als frühvollendete Werke der Romantik. In Anbetracht der Entstehungszeit (1794) darf man zugespitzt behaupten: Die deutsche Frühromantik beginnt mit Friedrich Gilly auf der Marienburg. Dabei ging es nicht nur um den ästhetischen Wert der gotischen Halbruinen, sondern auch um die Rolle Marienburgs und des Deutschen Ordens für die Geschichte Preußens. Die Marienburg war im 18. Jahrhundert in der preußischen Geschichtsschreibung vollkommen in Vergessenheit geraten und der Deutsche Orden hatte ein äußerst negatives Image. Da die Auflösung des Ordens 1525 durch Albrecht von Brandenburg die Grundlage für die Eingliederung des Preußenlands in den Machtbereich der Brandenburger gelegt hatte, musste die Herrschaft des Ordens in Preußen als ungerecht und illegitim gelten. Ansonsten wäre die Einverleibung Preußens durch Brandenburg juristisch nicht zu rechtfertigen gewesen. Dies war die Argumentationslinie der offiziellen preußischen Geschichtsschreibung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Gilly brach erstmals mit dieser historischen Sicht, indem er in seinen 1796 erschienenen Erläuterungen zu seinen Zeichnungen die Deutschordensherren als Urväter des Königreichs Preußen erklärte und somit einen Paradigmenwechsel im preußischen Geschichtsnarrativ. Die am Mittelalter ausgerichtete Identitätssuche für die in Folge der Französischen Revolution in ihrer historischen Legitimation erschütterten deutschen Staaten war ein wesentliches Element romantischen Denkens, das Friedrich Gilly mit seinem Marienburgerlebnis vorwegnahm.
Die Zeichnungen Friedrich Gillys wirkten nicht nur durch die Ausstellung in Berlin, vielmehr sorgte eine von Friedrich Frick 1799-1803 herausgegebene großformatige Publikation in Aquatintatechnik für eine weitere Verbreitung. Diese enthielt neben den Darstellungen Gillys noch zusätzliche Ansichten und Bauaufnahmen der Marienburg. (Abb. 8) Es handelt sich um die erste umfassende Dokumentation eines mittelalterlichen Baudenkmals im deutschen Sprachraum überhaupt. Damit steht die Marienburg am Anfang der systematischen Wiederentdeckung der gotischen Architektur in Deutschland – auch dies ein zentrales Anliegen der Romantik.
Die Rolle Friedrich Gillys bei der Wiederentdeckung der Marienburg als Erinnerungs- und Identifikationsort für die preußische Geschichte ist in der Forschungsliteratur durchaus bemerkt worden. Seinen entschiedenen initiierenden Beitrag für die Bewegung der Romantik hat man dagegen bislang fast nicht wahrgenommen. Dabei entsprechen seine Marienburgansichten formal und inhaltlich vollkommen den kunsthistorischen Romantikkriterien – genauso wie sein historischer Mittelalterbezug zur Neulegitimation eines preußischen Patriotismus. Friedrich Gilly verkehrte auch in den Kreisen der sich bildenden Berliner Frühromantiker und war insbesondere mit Wackenroder und Tieck bekannt. Seine Ansichten und Gedanken zur Marienburg wirkten auf die junge Gründergeneration der preußischen Romantiker unmittelbar bevor diese erstmals mit eigenen Werken an die Öffentlichkeit traten. Dennoch hat die deutsche Romantikforschung Gilly bislang nicht beachtet, obwohl oder vielleicht gerade weil er mit seinen Zeichnungen zehn Jahre früher in Erscheinung trat als Caspar David Friedrich oder andere Bildkünstler der Epoche.
Parallel zu den praktischen Restaurierungsarbeiten am Hochmeisterpalast initiierte Theodor von Schön eine Publikationskampagne mit dem Ziel, das Geschichtsbild der Marienburg in der preußischen Gesellschaft grundlegend zu verändern und die alte Ordensresidenz als historischen Erinnerungsort zu etablieren. Dabei handelt es sich um das Paradebeispiel einer gezielt konzipierten Geschichtspolitik, die auch tatsächlich zu dem intendierten Ergebnis führte. Die Wirkung des Ansichtenwerks von Frick und Gilly war um 1800 weitgehend auf die Kreise der jungen, romantisch bewegten preußischen Intellektuellen beschränkt geblieben. Theodor von Schön wollte dagegen eine Marienburgbegeisterung in breiten Bevölkerungskreisen auslösen und gleichzeitig ein historisches Bewusstsein dafür schaffen, dass der Deutsche Orden mit seinen kulturellen und religiösen Leistungen ein wesentliches Fundament für das Selbstverständnis des modernen Königreichs Preußen gelegt hatte.
Zu diesem Zweck ließ er innerhalb weniger Jahre (zwischen 1819 und 1824) mehrere Publikationen herausgeben und verbreiten, die für unterschiedliche Zielgruppen gedacht waren. Hierzu gehörten kurze historische Abhandlungen und Reiseberichte, die einem allgemeinen Publikum in komprimierter und leicht verständlicher Form die grundsätzliche Bedeutung Marienburgs näherbringen sollten. Bald darauf erschienen aus der Feder von Johannes Voigt zwei verschieden konzipierte Kunstreiseführer, die den Touristen vor Ort zu einem geringen Preis angeboten wurden. (Abb. 9) Diese gehören zu den ersten Beispielen ihre Literaturgattung im deutschsprachigen Raum. Um das Interesse der preußischen Militärkreise für die Marienburg zu gewinnen, ermunterte Theodor von Schön den Major Ludwig von Auer zur Abfassung einer kurzen Kriegsgeschichte der Marienburg vom Mittelalter bis zu den Befreiungskriegen. Das Büchlein wurde in einer beachtlichen Auflage von 8000 Exemplaren gedruckt und der Oberpräsident verfügte, dass davon 6000 Stück innerhalb der preußischen Armee zu verbreiten waren.
Neben diesen Sinne populären Kurzschriften regte Theodor von Schön aber auch anspruchsvolle wissenschaftliche Werke an. So gewann er den Breslauer Kunsthistoriker Johannes Büsching zur Abfassung einer 1823 erschienenen Baumonographie zur Marienburg (Abb. 10), eine der ersten deutschsprachigen wissenschaftlichen Untersuchungen zu einem mittelalterlichen Baudenkmal überhaupt. Ein Jahr später erschien eine erste ausführliche Darstellung der mittelalterlichen Geschichte Marienburgs von Johannes Voigt, der zahlreiche originale Schriftquellen aus dem Königsberger Archiv ausgewertet hatte und in einem Quellenanhang edierte.
Damit vollendete Theodor von Schön auf publizistischem Terrain die erste Phase seiner publizistischen Geschichtspolitik. Er wollte die Marienburg und den Deutschen Orden nach den Befreiungskriegen aus der Vergessenheit des 18. Jahrhunderts in das Zentrum der Mittelalterhistorie Preußens rücken. Diesen Bemühungen war innerhalb weniger Jahre ein voller Erfolg beschieden. Die Marienburg stieg für mehr als ein Jahrhundert zu einem preußisch-deutschen Nationalsymbol auf, zu einem Erinnerungsort par excellence. Bei aller rückblickenden Kritik auf spätere Auswüchse einer nationalistischen Bollwerkssymbolik, sollte man nicht verkennen, dass sich die intellektuellen Bemühungen um die Marienburg in den frühen Dekaden des 19. Jahrhunderts deutlich von der aggressiv-nationalistischen Haltung der späteren Zeit unterschieden. Der Antrieb des romantisch motivierten Patriotismus ging von einer positiven Betrachtung der Schönheit und Erhabenheit mittelalterlicher Kulturleistungen aus. Liest man die Texte Voigts, so scheinen sie inspiriert von romantischen Novellen, die die Welt in ein verklärt-ideales Licht rücken. Hier spürt man sehr deutlich den literarischen Einfluss Joseph von Eichendorffs, der in seiner Danziger und Königsberger Zeit (zwischen 1821 und 1831) ebenfalls aktiv am Marienburgprojekt Theodor von Schöns mitgewirkt hatte.
Ergänzend zu den gedruckten Publikationen wurde 1819 in Berlin eine Sonderschau zur Marienburg im Diorama von Gropius gezeigt, wo man die Ordensresidenz mit Szenen aus Vergangenheit und Gegenwart mit insgesamt sechs (von Schinkel entworfenen) Darstellungen in tiefenplastischen Schaukästen dem Publikum präsentierte. Diese Dioramen wurden anschließend auch in anderen Städten gezeigt, so dass sich der Bekanntheitsgrad Marienburgs in Deutschland merklich steigerte.
Die Wirkung dieser auf Breitenwirkung angelegten Geschichtspolitik lässt sich durch die Analyse von Artikeln in populären Zeitschriften oder in Enzyklopädien der Zeit nachweisen.
Initiative und Organisation der romantischen Wiederherstellung lagen in den Händen Theodor von Schöns, Oberpräsident Ost- und Westpreußens und seit 1842 Marienburger Burggraf, der diesem Projekt von 1815 bis zu seinem Tod 1856 vorstand. Ein zentraler Beweggrund für den unermüdlichen Einsatz Schöns für das Restaurierungsprojekt war zweifelsohne eine in vielen Schriften belegte, von romantischen Ansichten mitbestimmte persönliche Faszination für die Erhabenheit und Schönheit der mittelalterlichen Residenz. In der Rückschau auf sein Leben sah er sogar, enttäuscht von den Niederlagen seiner politischen Karriere, in der Wiederherstellung Marienburgs (sein „Lieblingswerk“) den einzigen bleibenden und ihn persönlich befriedigenden Erfolg seines Lebens.
Daneben hatten die Bemühungen Theodor von Schöns um die Marienburg aber auch einen klaren politischen Hintergrund, der in der wissenschaftlichen Diskussion bislang kaum thematisiert wurde. Der Oberpräsident verband mit der Idee der Wiederherstellung des mittelalterlichen Schlosses die politische Vision eines reformierten Königtums mit Ständevertretung und Verfassung, wie sie in den Kreisen um die Stein/Hardenberg-Reformer – zu deren jungen Mitarbeiter Theodor von Schön gehört hatte – angedacht worden waren. Durch die Marienburg und in der Marienburg wollte Schön König und Volk (vertreten durch die Stände) zu einer harmonischen Einheit zusammenführen, die er vor allem von Seiten einer wuchernden Zentralbürokratie in Berlin gefährdet sah. Diese symbolhafte Funktion erläuterte Schön 1818 in einem Brief an den Staatskanzler von Hardenberg: „Jedes Volk müßte sein heiteres Westminster haben, wo der König Patron ist und alle Edlen des Volkes zu Hause sind. Marienburg ist in seiner Geschichte und seiner Schönheit wegen vorzüglich dazu geeignet.“ Die Vorstellung einer vorbildlichen Symbiose von König und Volk entsprach dem romantischen Idealbild einer mittelalterlichen Ständegesellschaft. Einen solchen harmonischen Ständestaat hat es natürlich realiter weder im Mittelalter gegeben, noch war dieses Ideal an der Schwelle zur Modernen zu verwirklichen. Es diente dem Reformer Schön dennoch Zeit seines Lebens als zu erstrebendes Ziel.
Die von Schön und seinen Mitstreitern favorisierte romantisch-liberale Lesart der Marienburginterpretation hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht durchsetzen können. In der zweiten Jahrhunderthälfte trat die gegen die Slawen gerichtete deutsch-nationale Bollwerkssymbolik immer mehr in den Vordergrund. Spätestens seit dem berühmten historischen Essay Heinrichs von Treitschke (1862) war diese aggressiv-nationalistische Wertung der Marienburg (bis zum Zweiten Weltkrieg) tonangebend. Die frühe liberal-romantische Konnotation der Marienburg (auch wenn darin schon gewisse Ansätze einer Deutschtümelei zu finden sind) soll als ein wichtiger Aspekt für die Rezeptionsgeschichte gründlich aufgearbeitet und dargestellt werden. Sie bildet auch einen bemerkenswerter Teil der Frühgeschichte des deutschen Liberalismus.
Die 1817 begonnene Wiederherstellung der Marienburg war die erste umfassende Maßnahme der Baudenkmalpflege im modernen Sinn. Es handelte sich sowohl in theoretisch-wissenschaftlicher als auch in konservatorisch-praktischer Hinsicht um ein Pionierprojekt. Die Motivation zur Idee der Wiederherstellung beruhte ausschließlich auf der hohen historischen und ästhetischen Wertschätzung des Bauwerks durch Theodor von Schön und seine Mitstreiter. Es gab keine praktischen Nützlichkeitserwägungen zur Begründung der baulichen Maßnahmen – ganz im Gegenteil mussten die Befürworter der Wiederherstellung gegen den Widerstand der Baubehörden ankämpfen, die aus ökonomischen Gründen einen modernen Umbau oder Abriss befürworteten. Das Konzept Theodor von Schöns sah keine konkrete Nutzung der Räume des Palastes vor. Sie sollten vielmehr nur durch ihre Schönheit und Würde die Besucher geistig erbauen. Kunst und Geschichte allein gaben dem Bau eine zu schützende Daseinsberechtigung. Diese radikale Abkehr vom Nützlichkeitsprinzip, das bis um 1800 als eine Art Dogma in der preußischen Bauverwaltung galt, stellte einen grundlegenden Paradigmenwechsel dar und bildete die Grundlage für die Einführung des Denkmalpflegegedankens in die staatliche Baupolitik. Die ökonomische Nutzlosigkeit des Palastes nach seiner Wiederherstellung bestand auch tatsächlich. Außer gelegentlichen Festen und Veranstaltungen waren die restaurierten Räume leer und wirkten auf die Besucher (die freien Eintritt hatten) allein durch das Raumerlebnis sowie die damit verbundene Erinnerung an die mittelalterliche Urgeschichte des Preußentums. (Abb. 11) Dieses Erlebnis einer geschichtlichen Raumerfahrung förderte Theodor von Schön durch die oben schon beschriebene intensive Publikationstätigkeit zur Marienburg.
Auch in praktischer Hinsicht ging man völlig neue Wege. Ziel der Restaurierungsarbeiten war es, den ursprünglichen mittelalterlichen Zustand des Palastes wiederherzustellen. Dies geschah durch die Entfernung jüngerer Einbauten sowie die Rekonstruktion verloren gegangener Bauelemente. Als Grundlage für die Rekonstruktionsplanung bediente man sich der Bauforschung im modernen Sinn. Einerseits wurden die bei der Entfernung jüngerer Einbauten zu Tage tretenden älteren Befunde schriftlich oder zeichnerisch dokumentiert und daraus Rückschlüsse auf den ursprünglichen Zustand gezogen. Parallel dazu erfolgte im Königsberger Archiv eine Durchsicht älterer Schriftquellen, um Hinweise zur mittelalterlichen Nutzung und Struktur des Palastes zu erlangen. Die mit diesen Forschungen beauftragten Personen waren Ludwig Häbler (Marienburg) und Johannes Voigt (Königsberg), die sich unablässig bemühten, die Informationen aus den Baubefunden und den Archivquellen miteinander zu verknüpfen. Davon zeugt ihre im Schlossarchiv erhaltene umfangreiche Korrespondenz. Aus den Ergebnissen der Bauforschung leiteten sie Empfehlungen für die praktischen Baumaßnahmen ab.
Methodisch beschritt man damit neue Wege in Richtung einer Vorgehensweise, die bis heute grundlegend in der Denkmalpflege ist. Dabei kam es allerdings auch zu Fehldeutungen und Irrtümern, was aufgrund der Unerfahrenheit der Bearbeiter, die auf keine unmittelbaren Vorbilder für solche Arbeitsmethoden zurückgreifen konnten, nicht verwunderlich ist. Weiterhin gab es Konflikte zwischen den Wünschen der Bauforscher nach maximalem Erhalt oder getreuer Wiederherstellung basierend auf den wissenschaftlich ermittelnden Erkenntnissen einerseits und aufgrund praktischer Erfordernisse getroffener Maßnahmen der Bauausführenden andererseits, die zu anderen Lösungen führten. Grundsätzlich kann man jedoch feststellen, dass insgesamt bei der romantischen Wiederherstellung großen Wert auf die Schonung der originalen Gebäudesubstanz gelegt wurde. Willkürlich Eingriffe oder freie Rekonstruktionen hat es nur an wenigen Stellen gegeben. Somit war die Vorgehensweise der ersten Wiederherstellung deutlich zurückhaltender als die im späten 19. Jahrhundert begonnene zweite Restaurierungsphase. Theodor von Schön ordnete 1831 an, dass alle im Zusammenhang mit der Wiederherstellung entstandenen Unterlagen in einem eigenen Archiv zusammengefasst werden sollten. Auch diese Aufbewahrungspflicht entspricht modernen Dokumentationsgrundsätzen. Sie ermöglicht es der heutigen Forschung, die damalige Vorgehensweise der an der Wiederherstellung beteiligten Personen sowie die im Hintergrund ablaufenden Diskussionen bis ins kleinste Detail nachzuvollziehen.